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Autor Andrea Timmer am 04. November 2012
14226 Leser · 8 Stimmen (-2 / +6) · 0 Kommentare

Bildung

Selbständiges Lernen in einer angemessen guten Lernumwelt statt Abfragen auswendig gelernten Wissens

Sehr geehrte Damen und Herren,

meine Kinder nehmen an dem Schulversuch "Begabungsgerechte Schule/Inklusion" im Landkreis Offenbach teil. Da ich im Rahmen meines Studiums der Pädagogischen Pychologie vor 20 Jahren bereits an den Grundlagen dieses Versuchs mitgeforscht habe, bin ich froh, dass die damaligen Untersuchungsergebnisse nun langsam Eingang an die Schulen finden, d.h. in Teilen in die Praxis umgesetzt werden.
Sehr zu meinem Leidwesen erstreckt sich dieser Schulversuch allerdings nur auf Grundschulen. Das bedeutet, dass die Kinder an einer weiterführenden Schule ihre gelernten Kompetenzen, nämlich eigenständiges, entdeckendes, neugieriges, ideenlieferndes, fähigkeitsentsprechendes und soziales Lernen zu Gunsten eines auf Anpassung, Leistung und Wiederholung angelegten Lernens, aufgeben bzw. unterordnen müssen. Zu oft findet leider immer noch Frontalunterricht in den Schulen statt. Zum Glück gibt es allerdings Lehrer und Schulen, die bereits andere Lernumgebungen schaffen. Zu wenige, wie ich befürchte.
Nun meine Fragen bzw. Bitten an Sie (ich weiß, hehre Wünsche...):
1.) Gibt es Bemühungen, auch an weiterführenden Schulen, Lernumgebungen zu schaffen, die die Kinder bestmöglich, ihren Fähigkeiten gemäß, fördern?
2.) Konkret: wird oben genannter Versuch auch in absehbarer Zeit Eingang an weiterführende Schulen finden?
3.) Wird die Lehrerausbildung dementsprechend modifiziert, so dass Lehrerkompetenzen erweitert werden? Werden den Lehrern bessere Voraussetzungen geschaffen?
4.) Werden Studenten (zukünftige Lehrer) in ihrem Studium in absehbarer Zeit mehr mit der Praxis konfrontiert, so dass sie vorher wissen, was sie in ihrem Beruf erwartet? Werden diese Studenten auch im Vorfeld mehr auf "Tauglichkeit", ich möchte es lieber "Berufung" zum Lehrer nennen, getestet? Das würde wahrscheinlich viele davon abhalten, Lehrer zu werden, aber andere vielleicht auch eher dazu animieren...
5.) Erfahren Lehrer a) einerseits mehr Unterstützung während ihrer Laufbahn, b) andererseits aber auch mehr Kontrolle, ob sie unterrichtsfähig bleiben - eingeschlossen entsprechende Verpflichtungen zu Fortbildungen, gerade auch im Bereich der Pädagogik und nicht nur fachimmanent?
6.) Wird Lernumgebung auf absehbare Zeit durch konkrete Installation - vor Ort, d.h. direkt an der jeweiligen Schule - von Hilfsangeboten, wie z.B. Schulsozialarbeit/Schulpsychologie (Schüler, Eltern, Lehrer), Berufsvorbereitung und - beratung, Kontakte zu Vereinen und Verbänden modifiziert - besser vernetzt?
7.) Wann wird die Schulpolitik/werden die Schulsysteme endlich länderübergreifend modifiziert?
Leider lässt die derzeitige Schulpolitik, in der jedes Land sein eigenes Süppchen kocht, es nicht zu, dass man als Eltern von schulpflichtigen Kindern - die diese Suppe leider auslöffeln müssen - den Mund und die Füße still hält. Unsere Kinder sind die Zukunft dieses Landes. Toll, dass es sie gibt!!!
Bitte fördern Sie diese Zukunft! Danke!

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Antwort
von Kultusministerin Beer am 20. November 2012
Nicola Beer

Sehr geehrte Frau Timmer,

zunächst einmal vielen Dank für Ihre Fragen und Anregungen, die ich Ihnen sehr gerne beantworte.

Gibt es Bemühungen, auch an weiterführenden Schulen, Lernumgebungen zu schaffen, die die Kinder bestmöglich, ihren Fähigkeiten gemäß, fördern?

Ja, auch weiterführende Schulen verfolgen das Ziel einer Förderung individueller Leistungen und sozialer Fähigkeiten. Sie bieten eine Vielzahl an Lern- und Erfahrungsfeldern an, um den unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden, und verstehen die Befähigung zur Übernahme von Verantwortung für die eigene Person und für Mitmenschen als einen fundamentalen Erziehungsauftrag. Sie reagieren damit auf die demographische Entwicklung, das Wahlverhalten der Eltern und die Anforderungen der Wirtschaft an die schulische Bildung.

Wir arbeiten tagtäglich dafür, die uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu fördern. Die Realisierung und Intensivierung von individueller Förderung stellen eine mit hohen Ansprüchen und Anforderungen verbundene Aufgabe dar. An vielen unserer hessischen Schulen sind bereits Konzepte zur individuellen Förderung entwickelt und umgesetzt worden, an anderen wird daran gearbeitet. Unser gemeinsames Ziel ist es, allen hessischen Schülerinnen und Schülern durch die bestmögliche Schulbildung gute Zukunftsperspektiven zu eröffnen. In den weiterführenden Schulen werden daher auch immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und Behinderungen adäquat gefördert und unterrichtet. Dies ist zum einen auf das oben beschriebene Selbstverständnis der weiterführenden Schulen und zum anderen auf die verlässliche und flächendeckende Unterstützung der allgemeinen Schule durch die Beratungs- und Förderzentren zurückzuführen. Durch dieses Unterstützungssystem gelingt es schon seit vielen Jahren in Form von vorbeugenden Maßnahmen und Inklusiver Beschulung (bzw. Gemeinsamen Unterricht) viele Schülerinnen und Schüler in zu fördern und somit die Förderschulbesuchsquote gering zu halten bzw. zu senken.

Konkret: wird oben genannter Versuch auch in absehbarer Zeit Eingang an weiterführende Schulen finden?

Für den Schulversuch „Begabungsgerechte Schule“ im Landkreis Offenbach wird derzeit federführend durch das Staatliche Schulamt in enger Kooperation mit dem Schulträger und dem Kultusministerium ein Konzept zur Modellregion Inklusive Bildung erarbeitet.

Ein wesentlicher Punkt hierbei ist die Gestaltung des Übergangs für die Schülerinnen und Schüler in die weiterführenden Schulen. Sowohl die vier Versuchsschulen als auch das Staatliche Schulamt sehen hier einen Schwerpunkt für die weitere Schulentwicklung im Landkreis Offenbach.

Mit den Schulen, die für die Schülerinnen und Schüler aus Jahrgangsstufe 4 in Betracht kommen, laufen derzeit Gespräche, welche Elemente des Schulversuchs in den Unterricht und die Förderung in der Sekundarstufe I einfließen können, um den Übergang zum Wohle der Schülerinnen und Schüler gut zu gestalten.

Wird die Lehrerausbildung dementsprechend modifiziert, so dass Lehrerkompetenzen erweitert werden? Werden den Lehrern bessere Voraussetzungen geschaffen?

Ja. Das novellierte Lehrerbildungsgesetz (HLbG), die Verordnung zur Durchführung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbGDV) und die darin verankerten unterrichtbezogenen und allgemeinpädagogischen Module haben dies ausgeschärft: In den schulformübergreifenden Kompetenzen und Standards wird z.B. die individuelle Förderung der Lernenden im Sinne eines Ausschöpfens der Lernpotentiale von Kindern und Jugendlichen fokussiert. Dabei werden besonders die diagnostischen Kompetenzen (fachlich und überfachlich) der jungen Lehrkräfte geschult. Die theoriegeleitete Praxis ist dabei das leitende Prinzip der Ausbildung.

Auf Grundlage von Erkenntnissen der empirischen Unterrichtsforschung entwickeln die LiV (Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst) didaktisch-methodisch variantenreiche Lernarrangements, die den Kindern und Jugendlichen Raum zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Fragen und Problemen bieten.

Werden Studenten (zukünftige Lehrer) in ihrem Studium in absehbarer Zeit mehr mit der Praxis konfrontiert, so dass sie vorher wissen, was sie in ihrem Beruf erwartet? Werden diese Studenten auch im Vorfeld mehr auf "Tauglichkeit", ich möchte es lieber "Berufung" zum Lehrer nennen, getestet? Das würde wahrscheinlich viele davon abhalten, Lehrer zu werden, aber andere vielleicht auch eher dazu animieren...

Praxiserfahrungen sammeln die Studierenden (1. Phase) in zwei Praktika, die an Schulen betreut durchgeführt werden. Dort erhalten diese Feedback über berufliche Eignung und Hinweise zur Weiterentwicklung ihrer berufsspezifischen Kompetenzen.

Mit den Zentren für Lehrerbildung und den Universitäten werden zurzeit Möglichkeiten eines „assessments“ vor dem Studium diskutiert. Im sogenannten Praxissemester wird dies demnächst im Sinne einer noch kontinuierlicheren Begleitung von Studierenden an Schulen weiter professionalisiert.

In der zweiten Phase der Lehrerbildung an den Studienseminaren ist das Anbahnen einer Selbstreflexionskompetenz Dreh- und Angelpunkt der Ausbildung und wird von Anfang an durch geeignete Methoden trainiert.

Erfahren Lehrer a) einerseits mehr Unterstützung während ihrer Laufbahn, b) andererseits aber auch mehr Kontrolle, ob sie unterrichtsfähig bleiben - eingeschlossen entsprechende Verpflichtungen zu Fortbildungen, gerade auch im Bereich der Pädagogik und nicht nur fachimmanent?

Lehrkräfte erhalten Unterstützung in den verschiedensten Bereichen der Fortbildung: allgemeinpädagogisch, beratend und fachbezogen. Die Fortbildung wird zukünftig im sogenannten Landesschulamt landesweit koordiniert und regional bzw. überregional angeboten. Es wird ein breit gefächertes Angebot unterbreitet, das den Bedürfnissen vor Ort gerecht wird.

Die Sicherstellung von Unterrichtsqualität und die Einhaltung der Fortbildungspflicht ist zunächst die Aufgabe der Vorgesetzten vor Ort – also der Schulleitungen. Diese tragen Sorge für die Einhaltung von Erlassen und Verordnungen in ihrem Verantwortungsbereich. Sie beraten ihre Lehrkräfte im Hinblick auf mögliche Fortbildungen etc.

Wird Lernumgebung auf absehbare Zeit durch konkrete Installation - vor Ort, d.h. direkt an der jeweiligen Schule - von Hilfsangeboten, wie z.B. Schulsozialarbeit/Schulpsychologie (Schüler, Eltern, Lehrer), Berufsvorbereitung und -beratung, Kontakte zu Vereinen und Verbänden modifiziert - besser vernetzt?

Mehr Flexibilität, mehr Eigeninitiative, mehr Engagement vor Ort in der Schule: Genau das will diese Landesregierung in dieser Legislaturperiode erreichen. So hat sie sich zum Ziel gesetzt, die Selbstständigkeit von Schule zu stärken und weiterzuentwickeln, um die Unterrichtsqualität damit mittelbar zu erhöhen. Die Schulen vor Ort sollen über mehr Gestaltungsmöglichkeiten verfügen und u. a. in die Lage versetzt werden, flexibel und der regionalen Situation angemessen auch andere Kräfte als Lehrkräfte in die mehr und mehr ganztägliche Schularbeit einzubeziehen. Die Schulen erhalten eine Zuweisung von Lehrerstellen im Umfang von über 100 Prozent. Dies bedeutet auch für die Schulen des Landkreises Offenbach einen erheblich ausgeweiteten Gestaltungsspielraum, der in Eigenregie genutzt werden kann.

In vielen Schulen finden berufsvorbereitende Maßnahmen in Zusammenarbeit mit Betrieben, Verbänden oder den Kammern statt. Vielfältige Kooperationen gibt es bereits mit Vereinen im Bereich der Nachmittagsbetreuung. Ein weiterer Baustein ist der Bereich der Schulsozialarbeit, welcher dem spezifischen Lernumfeld der Schule angepasst werden muss.

Wann wird die Schulpolitik/werden die Schulsysteme endlich länderübergreifend modifiziert? Leider lässt die derzeitige Schulpolitik, in der jedes Land sein eigenes Süppchen kocht, es nicht zu, dass man als Eltern von schulpflichtigen Kindern - die diese Suppe leider auslöffeln müssen - den Mund und die Füße still hält. Unsere Kinder sind die Zukunft dieses Landes. Toll, dass es sie gibt!!! Bitte fördern Sie diese Zukunft! Danke!

Im Erziehungswesen gelten Rahmenvereinbarungen zwischen den Bundesländern. Ein Beispiel hierfür sind die kürzlich vereinbarten Abiturstandards. Mit der Einführung der Bildungsstandards für die allgemeine Hochschulreife werden die Vergleichbarkeit der Abiturprüfung und die Durchlässigkeit des Bildungswesens weiter verbessert. Die Bildungsstandards beschreiben fachbezogene Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler bis zum Abitur erwerben sollen. Die Länder schaffen somit gemeinsame Leistungsstandards, die als Grundlage für die Qualitätsentwicklung des Unterrichts und zur Überprüfung der erreichten Ergebnisse dienen. Die schulischen Anforderungen im Hinblick auf Wissen und Können werden somit für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für die Hochschulen und Ausbildungsbetriebe noch transparenter.

Wenn Familien mit Kindern von einem anderen Bundesland nach Hessen umziehen, werden sie nicht nur in den einzelnen Schulen über mögliche Unterstützung- und Fördermaßnahmen beraten, sondern finden in jedem der 15 Staatlichen Schulämter einen qualifizierten Ansprechpartner, der sie über die regionale Schullandschaft und das jeweils am besten passende schulische Angebot informieren kann.

Mit freundlichen Grüßen

Nicola Beer